Weitere Eindrücke

Nun sind es schon bald 4 Monate. Vielleicht ist es Zeit, einen weiteren Block zu den Eindrücken nachzureichen.

Die generellen Eindrücke haben sich inzwischen verfestigt. Momentan sind von den 16 Studierenden, die ich im 1. Semester betreue, nur ca. 2-4 anhand ihrer aktuellen Punktezahl überhaupt berechtigt, die Abschlussexamen zu absolvieren. Die anderen haben Hausarbeiten nie oder nicht ausreichend eingereicht, die Zwischenprüfungen nicht wahrgenommen und dann auch auf Verlangen hin kein Arztzeugnis eingereicht oder durch augenscheinliche Inaktivität nicht genügend Punkte in den Examen erreicht. Im zweiten Durchgang kam einer der Studierenden 15 Minuten zu spät zur Prüfung, sass ca. eine weitere Viertelstunde mit glasigen Augen vor seiner Arbeit, ohne auch nur einen Strich zu hinterlassen, und ging dann wieder. Auf der anderen Seite gibt es aber auch -hauptsächlich internationale oder weibliche- Studierende, die starkes Interesse zeigen und so viel wie möglich mitnehmen wollen. Ich habe den Eindruck, dass die georgischen Männer ziemlich aufpassen müssen, dass sie nicht von ihren Frauen in den nächsten Jahren elegant von rechts überholt werden.

Als ich nach dem ersten Zwischenexamen, bei dem die Hälfte der Klasse gar nicht erschienen war, eine kleine ‚Predigt‘ abliess, in der es darum ging, dass es nicht anginge, nach Europa zu schielen und die ganzen Vorteile zu sehen, aber nicht die Konsequenzen, z.B. bezüglich der Leistugsbereitschft in Kauf nehmen zu wollen, dass für ein Fach, das mit 6ECTS bewertet wird, von den Studierenden ein Aufwand von 150-180h erwartet wird und ansonsten der Leistungsnachweis eher nicht erbracht werden wird, erntete ich absolute Fassungslosigkeit beim Publikum. Ich meinte, Georgier seien ein stolzes Volk. Auf was sie stolz seien, fragte ich. „Auf unseren Tanz“, war eine der Antworten. Und was müssten sie tun, um auf den Tanz stolz zu sein? Nach ein wenig Hilfe von meiner Seite kamen sie darauf, dass ohne hartes Training kein Erfolg zu erwarte sei. Aha, die Berechtigung zum Stolz muss also erarbeitet werden. Das war wohl völlig neu für meine Zuhörer, wie den Gesichtern abzulesen war.

Es hat mehr als das halbe Semester an Zeit benötigt, bis für meinen Unterricht im Bereich Internet der Dinge nur ein paar Ports freigeschaltet wurden. Dieses Mal rief ich mitten aus dem Unterricht die IT-Leute an, weil die versprochene Funktionalität (‚By Monday it will all work‘) nicht da war. Und mitten im Unterricht mussten die IT-ler tatsächlich feststellen, dass die Funktionalität nicht da war und (wieder bei jedem einzelnen Arbeitsplatz) während des Unterrichts die Probleme bereinigen. Am erstaunlichsten fand ich jedoch, dass das anscheinend nichts bei ihnen auslöste, keinen Ärger, keine Peinlichkeit, keine Entschuldigung. Es gab mir das Gefühl, dass dies immer so laufe.

Meiner Frau Andrea hat ein Taxifahrer blank in’s Gesicht gesagt. „Wir Georgier sind alle faul.“ Ich würde das selbst nie so platt formieren, glaube aber schon, dass es da noch eine Menge an Potenzial gibt. Gespräche mit lokal Ansässigen ergeben schon immer wieder, dass Arbeit nur gerade minimal erfüllt wird und darüber hinaus nichts erfolgt. Ich denke, dass auch das sich aus der Geschichte dieses Landes, eingeklemmt zwischen vielen Gegnern, erklären lässt. Wenn es sich dauerhaft nur lohnt, für sich und seine Familie zu arbeiten, dann wird man berechtigterweise für andere nicht mehr tun als unbedingt nötig. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch, dass -wenn diese Annahme stimmt- nur durch eine Änderung der Gesamtmentalität eine Änderung im Funktionieren der Gesellschaft eintreten kann. Diese kann aber wohl auch nur dann hervorgerufen werden, wenn dieses Gefühl des ‚von Gegnern umgeben sein‘ wegfallen kann, was zum grossen Teil wohl nicht in den Händen der Georgier selbst ligt. Auf der anderen Seite sind sich die Georgier sehr wohl klar darüber, dass sie extrem ihren Traditionen verbunden sind. Sie finden das jedoch tendentiell eher positiv als negativ. Wohin dies führt, kann nur die Zukunft zeigen.

Wir haben inzwischen erfahren, dass die Arbeitslosigkeit, nicht wie offiziell angegeben bei 19% liegt, sondern inoffiziell bei 35%. Wir haben inzwischen einen Bericht gesehen, der zeigt, dass die meisten Samen zu den Weihnachsbäumen (Nordmanntannen), die in Deutschland angebaut werden, von wenigen Pflückern in Georgien auf gefährlichste Art und Weise für kaum Geld geerntet werden, haben gelernt, dass die Georgier beim Bildungssystem anscheinend von ‚unten herauf‘ die gleichen Interessens-, Motivations- und Disziplinprobleme haben, wie ich sie an der Uni erfahre. Das geht so weit, dass Anja und Lotte aufgegeben haben, georgisch zu lernen und den Unterricht nur noch stoisch ertragen. In den meisten Fächern findet kein wirklicher Unterricht statt. Selbst in Fächern, die auf Englisch oder Deutsch gehalten werden, fällt es meinen Töchtern schwer, beim vorhandenen Lärmpegel überhaupt mit zu bekommen, um was es geht. Die Kinder von Bekannten sagen über die Zustände an der Deutschen Schule Tbilisi ähnliches, einer Schule mit sehr gutem Ruf. Es liegt also eher an der Klientel als an der Qualität und Führung einer Schule. Unsere Kinder jedenfalls freuen sich auf Neuseeland, ihre nächste Station, durchaus auch mit der Aussage, dass sie dann wieder in ‚vernünftige‘ Schulen gehen können.

Ich geniesse die Zeit in Georgien immer noch sehr, unterrichte trotz aller punktueller Dysfunktionlität des Systems sehr gerne, nehme alle die neuen Erfahrungen gerne auf und mit. Ich werde jedoch auch eine schweizer Organisation nach meiner Rückkehr deutlich anders zu schätzen wissen. Es gibt wunderbare Menschen hier, wunderbare Landschaften, wunderbaren Wein und wunderbare Momente.

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